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VERSION AUF DEUTSCH — Das Ende ist es, wo wir anfangen — Teil 01, Kapitel 1-10

20 July 2022

Bemerkung: Diese deutsche Übersetzung wird von dem Autor durchgeführt, nur als eine Art Sprachübung.

Das Ende ist es, wo wir anfangen
Ein Roman
von Robert John Bennett.


Urheberrechtlich geschützt 2008 — Robert John Bennett

INHALT

„Mein lieber Freund,” sagte er, „es gibt keinen Grund dazu, überrascht zu sein oder dich in deinen Erwartungen getäuscht zu sehen. Es passiert oft, dass das autobiographisches Element eines Romans überhaupt nicht der Erzähler ist, sondern der Charakter, den der Erzähler beschreibt.” – Nils Sondergaard

Teil Eins:

Harvard — das erste Jahr



Teil 1, Kapitel 1

Forsitan et haec olim meminisse juvabit….
–Vergilius
Aeneidos

Eines Tages wird es vielleicht angenehm, sich auch an diese Dingen zu erinnern….
–Vergil
Die Äneis

Er würde nicht von dir erwarten, dass du glaubst, eine Geschichte wie diese könnte der Wirklichkeit entsprechen. Manchmal konnte auch er es nicht glauben. Viel davon musste er sich zwingen, sich daran zu erinnern; auf viel davon war er nicht sehr stolz. Eigentlich aber hatte er das Gefühl, dass sein Leben ziemlich bedeutungslos wäre, wenn er nicht versuchte, allerwenigstens, irgendetwas davon schriftlich festzuhalten, egal wie plump und unbeholfen sein Schreiben sein könnte. Und egal wie viel Angst er davor haben könnte, seine Geschichte zu erzählen.

Diese Geschichte handelt sich um einen Jungen, um einen jungen Mann in Harvard, einen, der das Gesicht eines Unschuldigen hatte – strahlend, offen, aber manchmal auch ratlos und verletzt. Er war erfüllt von Energie und Ideale und einer jugendlichen Liebe zu allem, was er über das intellektuelle Leben gelernt hatte. Natürlich glaubte er, dass er ein wenig von den schmerzlichen und hässlichen Seiten des Lebens wüsste, aber er war fast überzeugt davon, dass all das relativ unwichtig wäre. Er glaubte, dass das Einzige, was er zu tun hätte, sei, diese Seite des Lebens aus seinen Gedanken herauszudrängen. Er wusste, dass es Böses auf der Welt gäbe, aber was ihn betrifft, gab es nichts Böses, dem er nicht ausweichen konnte, nichts Böses, worum er sich eigentlich kümmern musste, nichts Böses, das ihn je beeinflussen würde.

Am Anfang in Harvard, war die Art von Professor, in dessen Vorträgen Seelengröße mitschwang, das, wovon er sich am meisten bewusst war. Diese Professoren aber konnten ihm auch eine seltsame Sorte von Schmerz und Verlegenheit bereiten, wegen der selbstgefälligen, spöttischen und herablassenden Art und Weise, wie sie über die großen Schriftsteller und Dichter der englischen Literatur sprachen. Als sie das taten, erregten sie in ihm ein merkwürdiges Gefühl von Demütigung im Namen dieser längst Gestorbenen, die der Lächerlichkeit so elegant und gewandt preisgegeben wurden.

Also, weil dieser junge Mann den Hochmut eines Heranwachsenden hatte, schwor er sich, auf irgendeinem tiefen Niveau seines Geistes und ohne wirklich zu verstehen, was er tat, dass niemand seine Schriften mit diesem wenig mitfühlenden Auftreten mustern würde. Es würde, versprach er es sich, keine Schriften zu mustern geben.

Später aber ist er zu der Einsicht gelangt, dass er wenigstens seine eigene Geschichte schreiben müsste und dass er dabei hoffen bräuchte, dass andere Menschen diese Geschichte mit möglichst großem Mitgefühl und Verständnis lesen würden. Er hoffte auch, dass sie die Art und Weise übersehen würden, wie er sich äußerte. Es war die einzige Art und Weise, wie er sich äußern konnte. Er musste alles verschlüsseln, sozusagen, in seiner Begriffsstutzigkeit und Dummheit. Er dachte, dass Begriffsstutzigkeit und Dummheit ihn schützen würden, vor der Beachtung von irgendjemand, der darüber lachen würde, was er zu sagen hatte. Er war so hochmutig, dass er nie aufhörte, sich um solche Dinge Sorgen zu machen.

Er hoffte auch, dass einige Leute versuchen würden, hinter der Verschlüsselung zu sehen. Er hoffte, dass sie denken würden, das sei der Mühe wert. Wenn sie aber ab und zu nicht umhinkonnten, ihn auszulachen, würde er es verstehen. Er war hochmutig, aber auch er konnte sich auf jeden Fall auslachen.



Teil 1, Kapitel 2

“There are no dangerous thoughts, thinking itself is dangerous.”
–Hannah Arendt
The New Yorker, December 5, 1977

“Es gibt keine gefährlichen Gedanken, das Denken selbst ist gefährlich.“
–Hannah Arendt

In Harvard zu studieren, das war für David so wichtig, dass er das Gefühl hatte, sein Leben würde nur dann richtig anfangen, als er Harvard endlich erreichte. Seit langem wird Harvard für ihn der Mittelpunkt der Welt. Harvard sogar war die Welt manchmal, denn er konnte an nichts anderes denken, in den Monaten, die vor seiner Reise nach Cambridge vergangen sind.

Er hatte das Gefühl, dass die Universität in gewisser Hinsicht ein endlos geheimnisumwitterter Ort sei, mit Tausenden von heimlichen Öffnungen, die in unendlich weitläufige Dimensionen führten.

Er rechnete damit, dass er in Harvard die Art Freunde finden würde, nach denen er sein ganzes Leben lang suchte. Es wären begabte Freunde, instinktiv liebevolle Freunde, die ein tiefes und intuitives Verständnis für einander und für die intellektuelle und materielle Welt, die sie umgab, hatten. Sie würden sich alle an Gesprächen über die größten Wahrheiten und die höchsten Ideale beteiligen. Ihre Ideen würden sich spiegeln und vervielfachen, bis diese eine Art von engelhaftem Glanz annahmen. Zusammen würden David und seine Freunde ferne und bis dahin unbekannte Gedankenwelten erforschen. Alles, nach dem sie suchten und nicht finden konnten, würden sie für sich selbst gestalten. Ein ganzes Universum von Weisheit würde vor ihnen liegen, und sie würden sich durch dessen endlose Gebiete bewegen, als ob sie dort zu Hause wären.

Er wusste, dass es viele Leute gebe, die sagen würden, dass solche Träume durch seine eigene überwältigende Einsamkeit verursacht wurden, und er vermutete, dass das wahr sei. Seine Träume aber wurden auch durch alles verursacht, was er über Harvard gelesen hatte, und über die Menschen, die dort studiert hatten.

Auf fast jeder Seite der Literatur und Geschichte seines eigenen Landes sah er sich mit Andenken dieser Menschen und dieser Universität konfrontiert. Es war, als es wenigstens versteckte Hinweise darauf gäbe, in beinahe allem, was er las, so dass, auch bevor er dorthin ankam, Cambridge diese „ferne, glänzende Stadt“ für ihn geworden war.

Wahrscheinlich jetzt wäre auch er der Meinung – das Leben muss ihn davon überzeugt haben – dass all das gefährliche Illusionen seien, obwohl er damals gewiss nicht dachte, sie seien Illusionen.

Das aber, was die Sache noch schlimmer machte, war, dass, als er endlich nach Cambridge kam, die Wirklichkeit von allem, wovon er geträumt hatte, schien, dadurch bestätigt zu werden, dass die dingliche und materielle Umgebung dem ähnelte, was er hatte sehen wollen und womit er gerechnet hatte.

Alles glühte in diesen weichen Farben eines Herbstes in Neuengland. Die Gebäude auf dem Harvard Yard wurden nur aus Ziegelsteinen und Granitblöcken gebaut, aber als er sie durch seine unschuldigen – oder wenigstens unreifen – Augen ansah, leuchteten sie wie Juwelen. Alles wurde lichtgeladen, sozusagen, und die mehrfachen Reflexionen strahlten durch seine Gedanken aus. Der ganze Harvard Yard wurde aufgeleuchtet, als ob durch Feuer, vor den Herbstfarben der Bäume, die sich hoch oben bogen und nacheinander griffen und dabei das Zentrum der Universität zu einer einzigen enormen Kathedrale aus Farben machten – auf jeden Fall in seinen Augen.

Natürlich sprach er über diesen Ideen mit niemandem, zumindest nicht am Anfang. Warum sollte er das tun? Zunächst hielt er es für selbstverständlich, dass alle andern die Welt sahen, genauso wie er es sah.

Als es aber anfing, ihm zu dämmern, dass die Welt, die er wahrnahm, könnte vielleicht ganz anders sein, als diejenige, die andere Menschen sahen, wurden all diese neuen inneren und äußeren Aspekte für ihn immer rätselhafter. Er suchte nach jemandem, der ihn beruhigen und seine Wahrnehmungen bestätigen würde, aber niemand in seine Umgebung etwas anbieten konnte, abgesehen davon, dass alle ihm sagten, er müsste einfach glauben, dass sie alles sehr gut verstünden, was er erführe.

Er war überbereit, ihnen in dieser Hinsicht zu vertrauen. Eigentlich glaubte er sehr gern, dass andere viel mehr über ihn wussten, als er selbst es wusste, weil ein solches Vertrauen es ihm leichter machte, in einer Welt zu leben, die immer verwirrender wurde.

Wenn er ab und zu vermutete, dass, trotz dem, was sie sagten, andere Leute gar keine Ahnung davon hatten, was ihm am wichtigsten sei, wunderte das ihn nicht, egal was er sonst noch empfunden haben mag.

Warum sollten andere Leute eine Ahnung davon haben, was ihm lieb sei? Schließlich hatten seine Eltern keine Ahnung davon. Manchmal benahmen sich diese, als ob sie gar nicht wüssten, dass er existiere. Auf jeden Fall konnten sie nicht wissen, was im Kern seines Wesens lag. Eigentlich schien es, als ob sie das nicht wissen wollten.

Seine Eltern gingen den Angelegenheiten ihrer täglichen Leben nach, als ob er unsichtbar wäre. Also, sagte er sich, wenn das, was er dachte und tat, keine Wirkung auf seine eigene Eltern zu haben schien, dann dürften die Unwissenheit oder die Gleichgültigkeit oder das vorgetäuschte Verständnis anderer Leute nicht ungewöhnlich zu sein scheinen. Trotzdem jagten ihm solche Dinge irgendwie Angst ein.

Natürlich waren nicht alle gleichgültig, aber diejenigen, die es nicht waren, glaubten, dass er schließlich enttäuscht werden würde, obwohl sie ihm damals nicht sagen wollten oder es nicht sagen konnten.

Später schloss er daraus, dass diese Menschen schon oft den Schmerz anderer Studienanfänger gesehen haben müssten, die unrealistische Erwartungen darin gesetzt hätten, was Harvard sein würde.

Diese Art Studienanfänger in Harvard hatte es immer gegeben, der entdeckte, dass er alles anders sähe, als die meisten Menschen. Als diese Entdeckung stattfand, war die erste Reaktion dieses jungen Mannes, eine fast unwiderstehliche Sehnsucht danach zu spüren, jedem Menschen, den er mochte, seine Welt zu beschreiben, als ob er ein unermesslich wertvolles Geschenk hatte, das er ihnen machen wollte.

David war einer dieser Studienanfänger, der eine Beschreibung davon ausschütten musste, was er gerade gesehen oder erfahren hatte. Gleichzeitig, als er das tat, hatte er einen Gesichtsausdruck, der so offen, so redlich, so verletzlich aber auch seltsam aggressiv war, dass er fast idiotisch schien, als ob der Junge irgendein merkwürdig unschuldiges Wesen wäre, der seine Freunde ansprach, nur um der Liebe willen, die er für sie empfand.

Alles aber, was diese Art Junge sah und beschrieb, enthielt ein ernüchterndes und ergreifendes Element: Die Möglichkeiten waren so sehr groß, dass er nie überleben würde. Er war inneren Kräften ausgeliefert, Kräften – man konnte sie kaum „Stärke“ nennen – die ihn zwangen, die Welt um ihn herum anzuschauen und das zu berichten, was er dort sah und empfand, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Für andere Menschen war das Problem, dass das, was ein solcher junger Mann sah oder empfand, auf keine Art und Weise bestätigt werden konnte. Also fragten sie sich, ob es sich lohne, ihm zu helfen zu überleben. Schließlich könnte er einfach noch ein begeisteter Heranwachsender sein?

Und wenn er das nicht war, dann was war er, wirklich? Auf jeden Fall, sagten sie sich, vielleicht stellte er eine Bedrohung ihrer Existenz dar, der Art und Weise, wie sie die Welt sahen.

Trotzdem konnte ein solcher junger Mann das Interesse seiner Freunde und anderer Leute so wach halten, dass alles andere in ihren Augen geringer wurde, im Vergleich zu ihm. Leider konnten sie ihn nie wissen lassen, dass das der Fall sei. Also schien es ihm, dass das, was er sah oder dachte, relativ wenig wert sein muss.



Teil 1, Kapitel 3

„Schrecklich ist die Verführung zur Güte“.
–Berthold Brecht

Er sah nicht anders aus, als die anderen Studienanfänger, die über den Harvard Yard eilten. Er trug das, was alle damals trugen, nämlich eine Jacke und Krawatte, und er hatte das frische und fast zu saubere Aussehen, das um diese Zeit irgendwie schien, typisch amerikanisch zu sein. In seinen eigenen Augen aber, war er voller Makel und Unvollkommenheit, und gelähmt durch Unsicherheit.

Und doch war er sehr oft glücklich, während dieser ersten Tage in Harvard, teilweise darüber, dass er in der Tat wirklich in Harvard war. So viele Menschen, deren Leben er bewunderte, hatten ihre Ausbildung in Harvard erhalten, wurden in Harvard geformt. Und jetzt war auch er da.

So viele große Geister sind in Harvard geformt worden. Also müsse auch er echter Größe fähig sein, glaubte er, ohne daran zu denken, dass es Hunderte von anderen Harvard-Studienanfänger um ihn herum gab, die genau dasselbe glaubten.

Er hatte auch keine Ahnung, wie seine angebliche Fähigkeit zu Größe sich äußern würde, aber er ging davon aus, dass das einfach in der Natur der Dinge liege. Er ist zum Schluss gekommen, dass, letzten Ende, ein echt großes Leben – wie ein echt großes Kunstwerk – einzigartig ist. Es gibt nichts, das die entfernteste Ähnlichkeit mit so einem Leben hat. Also, fragte er sich, wie kann jemand wirklich im Voraus wissen, wie so ein Leben aussehen wird oder welche Kräfte es gestalten werden, und wie es auf diese Kräfte reagieren wird?

Als er aber von Größe träumte, natürlich zur gleichen Zeit quälte ihn sehr oft ein fast vollkommener Mangel an Selbstvertrauen; manchmal wurde er auch von einem Gefühl der Unzulänglichkeit beinahe überwältigt. Obwohl es ihm normal schien, zu den großen Geistern der Vergangenheit aufzusehen, trotzdem fühlte er sich begriffsstutzig und unfähig, als er sich mit anderen Harvard-Studienanfänger verglich – und es muss noch einmal gesagt werden, dass es ihm nie einfiel, dass eine große Menge von ihnen dasselbe Gefühl hatte.

Er tritt während des Essens in den Speisesaal ein und sah diese Massen von jungen Männern. Er wusste, er einfach wusste, dass sie alle sehr klug und intelligent seien; sie schienen ganz anders als er: Die sahen unvergleichlich sorglos und unbefangen aus. Wie konnten sie von demselben nagenden Gefühl der Besorgnis überhaupt befallen sein, das er hatte? Sie waren so sehr selbstbewusst einander gegenüber; sie konnten alle so sehr leicht und fließend unter sich reden. Er sah zu, wie sie sich selbstsicher bewegten und er wusste – aus tiefster Seele wusste er es – dass sie alle die Natur intelligenter junger Könige teilten, während er sich selbst so vorkam, als ob er ein Niemand wäre.

Als er mit ihnen redete, natürlich konnte er gewöhnlich eine Weile tun, als ob er sich beherrschte, so gut wie sie, aber er konnte die Verstellung nicht sehr lange aufrechterhalten. Bald fühlte er sich isoliert und ängstlich. Er fragte sich, wie all die anderen so entspannt aussehen konnten, und wie sie mit einander so mühelos reden konnten.

Wie konnten sie sich einander so brillant erwidern? Wie konnten sie so viel gelernt haben, und er so wenig? Er fragte sich, ob er je aufhören würde, sich unbehaglich zu fühlen, in der Gegenwart dieser Zeitgenossen, die – er war sich dieser Sache sicher – eine höhere Denk- und Verhaltensweise erreicht hatten.

Viele Jahre später, sagte einer seiner Bekannten, dass er nicht schüchterner oder unbeholfener gewesen wäre, als der durchschnittliche Studienanfänger in Harvard. Man sagte ihm, dass fast jeder Studienanfänger in Harvard manchmal glaube, dass er ein einfacher Bürgerlicher sei, unter adligen Wesen vornehmer Abkunft. Und jeder normalerweise verbirgt den anderen sein ihn schmerzendes Gefühl der Unsicherheit, auf dieselbe Art und Weise, wie David es tat.

Wenn er sich unter den anderen Studenten hätte sehen können, hätte er gewusst, dass er so gut dachte und sprach und sich bewegte, wie die Besten unter ihnen. Allem Anschein nach, schien auch er einer der goldenen Jugendlichen, ein halbverkleideter junger König. Später fällt es ihm schwer, das zu glauben. Es wäre ihm damals sogar schwerer gefallen, so etwas zu denken.

Trotzdem, wenn er doch ein König wäre, bestand sein Land aus den Gebieten seiner eigenen Gedanken: einem Innenbereich, wo die ersten gravierenden Konflikte schon anfingen, sich zu rühren.



Teil 1, Kapitel 4

„Ach Harry, wir müssen durch so viel Dreck und Unsinn tappen, um nach Hause zu kommen! Und wir haben niemand, der uns führt, unser einziger Führer ist das Heimweh“.
–Hermann Hesse
Der Steppenwolf

Andere Menschen würden später sagen, dass seine Konflikte nur Anzeichen extremer Labilität seien.

Wo es sich um solche Sachen handelte, auch wenn diese Sachen ihn betrafen, war David längst zu dem Schluss gekommen, dass seine eigene Meinung wenig zählte. Natürlich aber, wenn irgendjemand ihm danach gefragt hätte, hätte er gesagt, dass er glaube nicht, diese Konflikte seien Anzeichen der Labilität, ob extrem, ob mäßig.

Er hat immer gedacht, dass diese Konflikte sich ergaben, als ein junger Mann sich abmühte, gut zu bleiben. Natürlich damals konnte er sich nicht dieser Sache sicher sein, weil er immer gelesen hat, dass alle Menschen neigten dazu, sich in solchen Fragen zu täuschen, und er glaubte, dass das stimme. Er dachte, der einzige Weg, diese Tendenz auszugleichen, war, jede verheerende Bewertung von ihm kritiklos hinzunehmen. Er glaubte, die Wahrheit würde schließlich herauskommen.

Andere Menschen – seine Mutter, sein Stiefvater, verschiedene Lehrer, Priester, Psychiater, Freunde – müssen immer Recht haben, dachte er. Auch wenn diese nicht Recht hätten, glaubte er, dass es eine Art Tugend sei, alles hinzunehmen, ohne eine Auseinandersetzung, was sie über ihn sagten.

Später, natürlich, begann auch er, sich nicht all das zusammenreimen zu können, was alle von ihm hielten, weil er sehen konnte, wie oft die verschiedenen Meinungen über ihn sich selbst widersprachen. Allmählich gewann er den Eindruck, dass die Meinung von ihm, die andere Menschen hätten, eigentlich in gar keinem Zusammenhang mit ihm oder mit seiner Persönlichkeit oder mit seiner Situation stünde. Allmählich dämmerte es ihm, dass der Rat von anderen Menschen vielleicht nicht darauf gerichtet sei, ihm zu helfen, sondern vielmehr darauf, irgendein Bedürfnis zu befriedigen, das sie selbst hätten.

Selbstverständlich, wenn er irgendjemandem erzählt hatte, dass er so etwas dächte, hätte man gesagt, dass solche Ideen seinerseits einfach noch ein Anzeichen für einen unausgeglichenen Geisteszustand wären. Diese Meinung über ihn hätte er – ausnahmsweise – nicht hingenommen, obwohl er sich nie darüber gestritten hätte. Er hätte sich einfach daran erinnert, dass schließlich, ganz egal was die Wahrheit sein mag, es die Wahrheit ist, die sich im Laufe der Zeit offenbaren wird, und so klar, dass die Leute keine andere Wahl haben werden, als sie zu akzeptieren. Er glaubte, dass auch wenn Menschen leidenschaftlich behaupten, dass irgendetwas der Wahrheit entspricht, und dadurch glauben, dass sie es wahr machen können, werden ihre Illusionen und Selbsttäuschungen schließlich vergessen werden, auf dieselbe Art und Weise, wie man aufwacht und einen Traum vergisst. Nur die Wahrheit wird übrig bleiben.

Erst später aber wurde diese Denkweise echt voll entwickelt. Am Anfang seines ersten Jahr in Harvard, fiel es ihm schwer, solche Gewissheit zu haben. Er konnte nur verstehen, dass er in einer Welt lebte, die andere Menschen als voll von Illusionen betrachtet hätten, wenn sie das gewusst hätten, was er wirklich dachte.

Wie schon darauf hingewiesen, stand im Mittelpunkt der Welt Davids die Frage von Größe. Es war natürlich nicht unbedingt seine eigene Größe, sondern wenigstens die Vorstellung von Größe im Allgemeinen. Es schien ihm, dass alle um ihn herum ständig von Größe redeten. Diese Sache war anscheinend ein ganz normales Element der Welt in Harvard. Er hörte es in den Vorträgen bestimmter Professoren, Vorträgen, die schienen, einen Sinn für die endlose Dimension zu verraten, nach der er suchte, als er nach Harvard kam, eine Dimension, die eigentlich das sich weithin erstreckende Gebiet des menschlichen Geistes war.

Merkwürdigerweise – wenn man Davids Interessen betrachtet, aber vielleicht nicht so merkwürdig, wenn man sich daran erinnert, welcher Bereich des intellektuellen Lebens den größten Einfluss auf unsere Welt jetzt ausübt – war es während der Vorträge eines Professoren für Naturwissenschaft, wo David zum ersten Mal auf dieses ganz neue Gefühl für das Leben stieß.



Teil 1, Kapitel 5

„Warum war denn dieses Sternbild dem jungen Werther so teuer? Weil er, so oft er es sah, immer wieder erkannte, dass er vor ihm durchaus kein Atom und kein Nichts war, dass diese ganze unermessliche Tiefe der geheimnisvollen Wunder Gottes durchaus nicht mehr bedeute als sein Denken, als seine Erkenntnis, nichts Höheres ist als das in seiner Seele enthaltene Schönheitsideal und folglich ihm gleich ist und ihn mit der Unendlichkeit des Seins verbindet…“
–Fiodor Dostojevski
Tagebuch eines Schriftstellers

Er tritt in den hinteren Teil des Hörsaals in Burr Hall ein und blickte hinunter, auf das tief unter ihn liegende Podium, das am Ende einer steilen und fast Schwindel erregenden Neigung von Sitzen errichtet wurde. Diese Aussicht verursachte ein Hochgefühl. Gleichzeitig gab es auch etwas Furcht Erregendes. Er war einsam; er sah sich mit einer unbekannten Welt konfrontiert, oder wenigstens mit einer ihm unbekannten Welt. Egal, was er über die Frage der Größe gedacht haben mag, genau in dem Augenblick brachten ihm solche Ideen gar kein Selbstvertrauen.

Er setzte sich irgendwo in die Mitte des Hörsaals und sah zu, wie seine Kommilitonen eintraten: die jungen Männer, unterschiedlich gestimmt, einige nachdenklich und einige lachend, und die jungen Frauen von Radcliffe, fast alle sehr ernst. Dann, um genau acht Minuten nach der vollen Stunde, trat Professor George Wald ein, und seine Anwesenheit stand sofort im Brennpunkt des Interesses.

Wenn es jemals einen Professor in Harvard gab, der sich wie ein Mitglied einer intellektuellen Aristokratie benahm, war es George Wald. Gleichzeitig aber konnte man immer einen humoristischen Anflug in seinem Auftreten spüren, eine Art von leiser Selbstverspottung. Das leise Lächeln, das ihm fast immer im Gesicht geschrieben stand, schien meistens auf ihn selbst gerichtet zu werden. Manchmal aber verzog sich sein Lächeln zu einem breiten Grinsen und leuchtete, als ob er uns sagen wollte, „Es ist mir ein echt großes Vergnügen, Sie alle hier zu sehen! Es ist eine wahre Wonne, dass wir alle da sind, oder?“ In solchen Augenblicken hatte David den Eindruck, dass Walds Gesicht die Art Licht widerspiegelte, das man in einem Gemälde von Rembrandt finden konnte. Ringsherum schien die Luft selbst, irgendwie, vor freudiger Erwartung zu glänzen.

George Wald schwieg einen Augenblick und sah sich im Hörsaal um. Er lächelte, als ob er die Beachtung genösse, die dreihundert junge Geister ihm schenkten. „Wir werden heute Morgen anfangen,“ sagte er, „mit der Darlegung eines Gedankens, das heutzutage fast ein Gemeinplatz ist: die Idee, dass wir alle aus demselben Stoff gemacht sind, der die Materie sterbender Sterne einmal bildete.“

Damals für David war diese Idee kein Gemeinplatz, und als Professor Wald sie zum Ausdruck brachte, stellte David sich vor, dass er das verstand, was einer der alten Entdeckungsreisenden empfunden haben muss, als er in ein Land einreiste, das niemand wie er jemals gesehen hatte. „Unser Sonnensystem,“ erklärte Wald, „mit seinen Planeten und allen Geschöpfen, die auf unserer Welt leben, ist ein Nebenprodukt des Todes einer früheren Generation von Sternen.“ Er hielt inne und, mit seinem bekannten Sinn für das Dramatische, ließ er uns die Implikationen ins Bewusstsein dringen. „Auch rein materialistisch betrachtet,“ fuhr er fort, „sind wir Menschen nicht ohne Wichtigkeit im Kosmos. Wir haben ein Recht darauf, sich überall zu Hause zu fühlen, wir haben ein Recht darauf, eine Verwandtschaft mit den Sternen wahrzunehmen – und mit allem, was diese dem menschlichen Geist immer bedeutet haben.“

Wie man vielleicht hätte erwarten können, an einer Universität wie Harvard, gab es ein paar Studenten, die Wald dann auszischten, mehr oder weniger aus Scherz. Wald, wie immer, reagierte durch eine kleine Handbewegung und ein freudiges Lächeln. Er wusste, dass er die Gedanken der Studenten ergriffen und ihre Vorstellungskraft vervielfacht hätte.

Als der Vortrag zu Ende war, ging David nach draußen. Walds Vortrag hatte ihm zahlreiche neue Anregungen gegeben. Gleichzeitig aber, in einem kleinen, dunklen Bereich seines Denkens spürte er die Art Unbehagen und Verwirrung, die ihn zu einem gewissen Grad sein Leben lang begleitet hatte.

Unbehagen, Verwirrung und Angst – alle drei waren die Folge eines andauernden, scheinbar endlosen Kampfes. Einerseits spürte er den Wunsch danach, ein guter Mensch zu sein – was einige als naiv bezeichnet hatten. Andererseits wurde er dem unerbittlich steigenden Bewusstsein der Existenz des Bösen auf der Welt und auch das Potenzial an Böse, das er – wie alle Menschen – auch hatte. Er dachte daran, was der Heilige Augustinus einmal geschrieben hatte: nämlich, dass es keine böse Tat gibt, die ein Mensch je begangen hat, die nicht von allen Menschen begangen werden könnte.

David glaubte auch, dass er das Böse einfach ignorieren könnte, egal welches Böse es wäre und egal wo er es vielleicht wahrnehmen würde. Er war sich davon sicher, dass er seine Gedanken einer anderen Sache einfach zuwenden könnte. Er war davon überzeugt, dass er schließlich, als die Jahre vergingen, nicht mehr von all dem gestört wäre, das unrecht ist, unrecht nach den Kenntnissen, die er schon in früher Jugend erworben hatte. Nicht gestört zu sein – das könnte er lernen. Letztendlich war es nicht das, was so viele andere Menschen getan hatten? Es wäre ihm doch ein Leichtes, dasselbe zu tun, oder?



Teil 1, Kapitel 6

„…Ehrgefühl …gegen einen, den es zu vernichten galt“.
–Thomas Mann
Joseph und Seine Brüder

Im Glanz dieses Herbstnachmittags, schien das Zeitlose fast wahrnehmbar zu sein. Alles war frisch, neu und mysteriös: strahlende Möglichkeiten boten sich ihm an, durch alles, was er anschaute: das Licht, das auf die Backsteine eines Türrahmens fiel; die weißen, in der Sonne leuchtenden, georgianischen Türme, die nach dem sanften Himmel von Cambridge griffen; der plötzliche Bogen der Flügel einiger Vögel, als sie sich jäh in die Luft erhoben. All dies auch verursachte ihm ein Gefühl der Überraschung und Verwirrung, denn er verstand nicht, warum er die Welt auf diese Art und Weise sah; er wusste es auch nicht, was er dagegen unternehmen müsste.

Das, was er als dieses „neue Bewusstsein“ betrachtete, schien, jede alltägliche Tätigkeit zu erhöhen. Es schien, dem Kampf größere Bedeutung zu verleihen, dem Kampf, gut zu sein, Gott zu lieben, und dem ganzen Umfang geistlicher Ideale, die fast allen anderen anscheinend sinnlos waren, Ehre zu machen.

All seine echt engen Freunde, schien es, fand er in Büchern oder unter den Heiligen, zu denen er betete – und das war, natürlich, ein klares Zeichen der Probleme, die vor ihm lagen. Er verstand nicht, wie gefährlich es war, dass er nicht unter den Leuten, die um ihn herum waren, diese intellektuelle Gemeinschaft finden konnte, nach der er sich sehnte. In der Literatur und im Beten schien es ihm, dass etwas sehr viel Besseres existierte. Wenn er die Gefahr aber nicht verstand, wenigstens fragte er sich manchmal, ob er sich einer Illusion überließ, oder nicht. Natürlich waren alle, die um ihn herum waren, sich davon sicher, dass das der Fall war.

Er glaubte aber, dass, auch wenn es eine Illusion wäre, seine Freunde zu finden, wo er sie fand, er nicht auf sie verzichten würde. Mancher würde sagen, dass das sein fataler Irrtum sei.

Sicherlich, auf eine gewisse Art und Weise, fühlte er sich allein. Immer wieder aber, als er in die dunkle, ruhige Kirche in der Nähe von Harvard Square eintrat und vor dem Tabernakel saß, und als er den kleinen Vorhang ansah und wusste, dass es hinter diesen eine Öffnung gab, der Ewigkeit zu, fühlte er sich immer noch allein, ganz bestimmt, aber allein in der Gegenwart einer Person, die nach dem, was David glaubte, in gewisser Hinsicht vielleicht immer allein war. Ob er es deswegen verdient, oder nicht, von vernünftigeren Menschen verspottet zu werden, glaubte er, dass er allein war, mit jemandem, dessen Liebe es notwendig machte, dass er nach den höchsten Grundprinzipien lebe, die er kannte. Das war alles, was er damals wusste; es war alles, was er später wusste. Seiner Meinung nach waren diese Werte die einzigen, nach denen er leben konnte, egal wie unbeholfen er es tat und egal wie oft er damit scheiterte.

Diese Werte hat er schon früh erworben, und sie sind ein notwendiger Bestandteil von ihm geworden. Ohne diese Werte würde sein Leben keinen Sinn ergeben; ohne sie würde er selbst keinen Zweck haben. Als Kind, hatte er aus dem Katechismus gelernt, dass Gott ihn erschaffen hat, um Gott in diesem Leben zu kennen, zu lieben und ihm zu dienen und mit ihm im zukünftigen Leben für immer glücklich zu sein.

Ganz egal. was er tun oder denken oder sagen könnte – und ganz egal, wie töricht vernünftigere Menschen diese Ideen finden könnten – waren sie die echte Basis für seine Existenz. Er war sich nicht immer dieser Ideen bewusst und er lebte nicht immer, als ob er all ihre Implikationen verstünde, aber die übten einen tiefen, verborgenen Einfluss auf all sein Verhalten. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, wenn man sagt, dass dies ein Einfluss wäre, dass ein so wichtiger Bestandteil seines Gedankens war, dass er glaubte, er könnte sich nicht davon befreien, ohne das ganze Fundament seiner Persönlichkeit zu zerstören.

Viele Jahre nach der Krise, die er in Harvard durchmachte und die sein Leben vielfältig änderte, auf eine Art und Weise, die er nicht vorausgesehen haben konnte, sagte ihm einmal einer seiner ehemaligen Professoren, „Es muss noch etwas in Ihrem Leben vorgekommen sein, als Sie damals in Harvard waren.“ David verneinte es, weil es ihm schien, dass irgendetwas dem Professor vorschwebte, dem David damals nicht zustimmen konnte. Auf irgendeine Art und Weise aber hatte dieser Professor Recht, denn es tatsächlich schien manchmal, dass eine ganz andere Wirklichkeit seine Existenz bedrängte und beeinflusste, so gründlich und eng, dass er sie als ein wesentlicher Bestandteil dieser Existenz betrachten musste, und nicht als das „etwas anderes“, an das der Professor dachte. David glaubte, dass es diese Wirklichkeit war, worauf sein Leben, seine Existenz und seine Identität schließlich gegründet worden waren.

Später, als die Jahre vergingen, glaubte er immer fester, dass diese Wirklichkeit einfach die Wirklichkeit Gottes sei, auf die unklare, wirre und fragmentarische Art und Weise wahrgenommen, wie bestimmte Menschen glauben, dass sie in diesem Leben Gott wahrnehmen.

Für ihn war Gott der absurd zerbrechliche Körper, diese im Tabernakel weggeschlossene Hostie, am Altar der Kirche in der Nähe von Harvard Square, wo nur eine einzige rote Kerze brannte. Das war das „etwas anderes“, das sein Leben enthielt, weil er glaubte, dass dort, vor ihm in der Kirche, hinter einem dünnen Schleier, Einer war, den kein Mensch jemals ergreifen könnte und dessen Wege kein Mensch jemals verstehen könnte. Da, am stillen Punkt – seines Erachtens – war der Anfang und das Ende des ganzen geschaffenen Universums.

In dieser Kirche fühlte er sich zu dem hingezogen, was er von Gott wusste, oder so es ihm schien. Er fühlte sich durch die Art Instinkt hingezogen, der die meisten Lebewesen dazu bringt, sich auf das Licht zu orientieren, obwohl später, und ziemlich lange, als es um echte erwachsene Entscheidungen ging, er sich als jemanden betrachten würde, der der Dunkelheit zugewandt hatte.



Teil 1, Kapitel 7

„Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch nur mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist“.
–Horst-Eberhard Richter
Bedenken gegen Anpassung

Nach einer Woche von Orientierung für neue Studenten, am Abend des ersten Tages des Semesters, ging er wie üblich in den Speisesaal, der für Studienanfänger reserviert war. Es war das Ende eines hellen, warmen Frühherbsttages, und als er von seinem Harvard-Yard-Wohnheim ausging und sich umschaute, dachte er daran, wie viel die alten Gebäude selbst fast wie der Weisheit errichtete Denkmäler schienen, mit ihren „Veritas“-Wappen und dieser Aura des geheimnisvollen Versprechens, das er sehr bald verstehen würde – davon war er sich sicher.

Eigentlich im Speisesaal zu sein aber war eine weniger angenehme Erfahrung, als nach dem Speisesaal zu gehen.

Der Raum war enorm, riesig, und erinnerte ihn an den großen Saal, den die Ritter von irgendeinem nordischen Stamm benutzen, in einer angelsächsischen Saga. Die Atmosphäre war voll mit Lärm and dem Klang zahlloser Gespräche, geführt von jungen Menschen, die David gar nicht bekannt waren. Für einen Menschen wie ihn, der so schüchtern und unsicher war, war das eine Furcht erregende Situation, eine Qual, die er dreimal am Tag erleiden musste.

Natürlich, wenn es möglich war, versuchte er immer, sich zu Tisch zu setzen, wo es ein paar Leute gab, die er schon kannte. Das war aber nicht leicht, weil er nur wenige Leute kennen gelernt hatte. An diesem Abend sah David den älteren Studenten, der für das Harvard-Wohnheim, in dem er wohnte, zuständig war. Sein Name war Eric Billings und er war ein intelligenter, extravertierter Jurastudent. Er hat sich zu Tisch mit einigen Studienanfängern gesetzt, die David schon im Wohnheim gesehen hatte, und als David sich zu ihnen setzte, tat Eric alles, was er konnte, damit auch David an der Konversation teilnähme. Es fiel Eric wahrscheinlich nicht leicht, das zu tun, wegen Davids Scheuheit und seiner Naivität, zusammen mit der Art und Weise, wie er es erwartete, dass andere ihn ignorieren würden, wie seine Mutter und Stiefvater ihn immer ignorierten, als er mit ihnen zu Tisch war, in ihrem Haus. Wie er es oft tat, in solchen Situationen, so tat David jetzt, als wollte er wirklich unsichtbar sein. Er blickte die anderen kaum an. Eric aber grüßte ihn und stellte ihn allen vor.

David hörte einen Kommilitonen fragen, was er als Hauptfach studieren wollte. „Ich weiß es noch nicht“, sagte er und starrte seinen Teller an, mit gesenktem Kopf, ohne jemanden anzublicken, „aber ich glaube, es wird englische Literatur sein“. Plötzlich herrschte es Stille, oder so schien es David. Er fragte sich, ob er fortfahren sollte. Er warf einen kurzen Blick auf alle und dann fuhr fort zu reden, vielleicht ein bisschen zu laut, ein bisschen zu schnell. „Ich weiß nicht, warum genau ich englische Literatur als Hauptfach studiere. Es ist nur, dass, als ich in der Oberschule war, dieses Fach mir einfach gefiel – vielleicht weil es meinen Lehrern auch gefiel. Diese anscheinend dachten, man könnte irgendetwas über das Leben lernen, wenn man Literatur studierte.“

Einer der Anwesenden schnaubte ungläubig. „Mein Gott, gibt es immer noch Menschen, die der Meinung sind, dass sie irgendetwas über das Leben lernen können, wenn sie Literatur studieren?“ Die sarkastische Bemerkung brachte David dazu, unter den Tisch sinken zu wollen. „Ich davon aus“, fuhr die Stimme fort, „dass wir immer noch im Zeitalter der amerikanische Unschuld leben“.

Es war Eric, der mit seiner tiefen, ruhigen Stimme reagierte. „Oder es könnte sein, Parker, dass wir immer noch im Zeitalter der Großspurigkeit der heranwachsenden Snobs leben“.

Erics Bemerkung aber war zu spät. David war sich davon sicher, dass er etwas gesagt hätte, was nicht nur nicht wieder gutzumachend dumm war, sondern auch unverzeihlich blöd. Ein Gefühl, das Heranwachsende oft haben, ergriff ihn, ein Gefühl der Scham und Verlegenheit. Kritik verletzte ihn tief, wie immer. Andererseits haben ihm Lob und Ermutigung nie geholfen, denn er wusste, er würde diese im Nu vergessen. Irgendwie konnte er nicht glauben, dass er Lob und Ermutigung tatsächlich verdient hat.

Es sei wahrscheinlich die Wahrheit, dachte er bei sich. Vielleicht sei er doch völlig unerfahren, ein Unschuldiger. Er fragte sich aber, ob er sich deswegen schämen solle. Er fragte sich, warum es zu existieren scheint, im Verhalten unserer Spezies, eine Art Instinkt, der darauf zielt, Unschuld zu vernichten und Idealismus zu verhindern, zumal wo es sich um intelligente, junge Männer handelt, obwohl David sich in diesem Augenblick kaum als intelligenten jungen Mann betrachtete. Manchmal schien es ihm, dass dieser Instinkt eine Sehnsucht nach Rache darstellte, eine Sehnsucht – seitens anderer Menschen – das Zunichtemachen ihrer eigenen Unschuld zu kompensieren. Er dachte bei sich, dass es irgendwo in der menschlichen Psyche möglicherweise eine Art von primordialem Glauben existierte, nach dem das Fortbestehen der Unschuld, auch in einem einzigen Menschen, das Überleben aller gefährden könnte. Schien ein unschuldiger Mensch vielleicht einfach begriffsstutzig, damit man sich nicht auf ihn verlassen könnte, oder hielt man ihn für nicht schlau genug, um zu überleben?

Überleben. Als die Zeit verging, lief alles auf eine Frage des Überlebens hinaus: „Wenn ich nur dieses Semester überleben kann —“ pflegte er zu denken, oder „Wenn ich nur diesen Klausurzeitraum durchstehen kann —“ oder „Wenn ich nur bis zum Frühling überleben kann —“ oder sogar „Wenn ich nur durch diesen Tag kommen kann —“

Natürlich meinte er nicht akademisches Überleben. Das war für ihn nie ein Problem. Aber das Überleben all dieser Werte, die er als den Kern seiner Identität betrachtete, und das Überleben der Ideale, die er erworben hatte – all das war es, was immer schien, so bedroht zu werden, genau das war der Punkt, wo er sich immer so verletzlich fühlte.

Aber anfangs, als er Student in Harvard war, spürte er kaum mehr als ein vages Gefühl der Besorgnis, eine Art Verwirrung, zumindest im Vergleich zu dem, was er später spüren würde.

Später würden die Befürchtungen so sehr heftig werden, dass er sie als eine Art überwältigender Angst empfinden würde, oder als Zorn und ein Gefühl der Empörung. Zukünftig in Harvard würde es auch so weit kommen, dass der bloße Anblick aller und alles um ihn herum ihm reine panische Angst und Bange einflößen würde.



Teil 1, Kapitel 8

„Auch habe ich viel geträumt von dem Modell, wovon ich so lange rede, woran ich so gern anschaulich machen möchte, was in meinem Innern herumzieht….“
–Goethe
Italienische Reise

Das Studentenwohnheim, wo David wohnte, wurde Thayer Hall genannt, und es war eins der neueren Gebäude in Harvard Yard, dem ursprünglichen Zentrum des Hochschulgeländes, da Thayer im neunzehnten Jahrhundert gebaut wurde. Ihm wurde eine Suite von zwei Zimmern zugewiesen, die er mit einem Zimmergenossen teilte. Diese Zimmer waren spartanisch: ein Sofa mit ein paar Schreibtischen, Betten, und Stühlen; die Wände waren teils verputzt, teils holzgetäfelt, und teils aus freigelegtem Backstein gebaut.

Während der ersten paar Wochen teilte David diese Zimmer mit einem Harvard-Studenten, der — unter all den Studenten, die er in vier Jahren an der Uni traf — am bestürzendsten war. Sein Name war Bowers, und er und David hätten nicht verschiedener sein können, wenn sie versucht hätten, das zu sein. Bowers schien – fast durch seine Existenz allein – alles zu verleugnen, an das David glaubte, alles, was David war. Vielleicht war das der Grund dazu, dass David und Bowers dieselben Zimmer zugewiesen wurden. So etwas passiert oft in Harvard. Oder vielleicht waren David und Bowers alle beide so seltsam – obwohl auf unterschiedliche Arten – dass niemand wusste, wo sonst noch sie unterzubringen. Egal aber der Grund zu dieser Entscheidung, die Idee, dass zwei Menschen wie David und Bowers eigentlich zusammenleben könnten, war zum Scheitern verurteilt, von Anfang an, genau von dem Moment, wo sie im Gehirn eines namenlosen Universitätsbürokraten gestaltet wurde.

Nachdem David in die Zimmer eingezogen war, war von Bowers mehrere Tage lang nichts zu sehen, aber eines Morgens während der Immatrikulationswoche, als David in die Zimmer zurückkam, da war Bowers. Er war ungefähr ein Jahr älter als David – aber in mancher Hinsicht war der Altersabstand viel größer. Bowers war stämmig und sah zäh aus, mit einem unheimlichen, wilden Element in seinem Charakter.

An dem Tag, wo David ihn kennen lernte, hatte Bowers verblichene Jeans und ein T-Shirt an, zu einem Zeitpunkt, wo jeder Harvard-Student immer eine Jacke, eine Krawatte und eine ordentlich gebügelte Hose trug. Bowers sah so aus, als ob er sich nicht in mindestens achtundvierzig Stunden rasiert oder die Haare gekämmt hatte.

Er stand vor seiner Kommode und anscheinend versuchte, irgendetwas in der obersten Schublade anzuordnen. Als er David in das Zimmer eintreten hörte, drehte er sich um und grinste. „Hallo. Du bist Dave Austin?“

„Genau.“

„Bill Bowers.“ Er streckte seine Hand aus, damit sie sich die Hand schütteln könnten. Die Hand von Bowers war voller feuchter Erde, als ob er in einem Garten gearbeitet hätte.

„Arbeitetest du draußen?“

„Nein.“ Und er lachte. „Schau mal.“

Er zeigte auf die geöffnete Schublade der Kommode. David schaute darin hinein und sah, dass der Boden der Schublade mit einer Erdeschicht gedeckt wurde, ungefähr vier Zentimeter dick. Kleine, grüne Sämlinge waren ordentlich in Reihen gepflanzt worden. Über der Schublade stand eine Lampe, die David als die Art Lampe erkannte, die man benutzte, um Pflanzen in einem Gewächshaus zu ziehen.

„Nur ein bisschen Grass“, sagte Bowers. „Du hast kein Problem damit, oder?“

David stand vor einem Rätsel. Das Wort „Grass“ war damals in Harvard nicht sehr wohl bekannt. Er zwinkerte mit den Augen, sah auf die Pflanzen, dann auf Bowers, und wieder auf die Pflanzen.

„Gras?“ sagte David, und er sah nochmals auf Bowers. „Warum willst du Gras hier ziehen? Es gibt viel Gras draußen. Die Rasenfläche im Yard ist voller Gras.“

Und jetzt war es Bowers, der einen Augenblick fassungslos wirkte. „Woher kommst du?“ sagte er.

„Michigan.“

„Und es gibt kein Grass in Michigan?“ Er fing an zu lächeln, als ob etwas sehr Lustiges gerade eben geschehen war.

„Natürlich gibt es Grass in Michigan,“ sagte David, und er begann, sich verärgert zu fühlen.

„Du bist nicht viel in der Welt herumgekommen, oder?“ Bowers schaute ihn weiter an. Bei David wirkte Bowers’ Gesichtsausdruck sehr spöttisch, aber nicht unfreundlich. Trotzdem fühlte sich David verärgerter denn je. „Ich wollte nicht die Art Gras damit sagen“, fuhr Bowers fort. „Ich meine, weißt du, Grass – Marihuana“, und er zeigte David eine Art schlecht gerollter Zigarette mit klumpiger Füllung, auf beiden Enden gedreht. „Hier“, sagte Bowers, „wollen wir uns damit anturnen?“

Einfach mit Bowers zu plaudern – das machte alles für David ein bisschen unwirklich. „Marihuana?“ sagte er. Und er dachte, „Rauschgift? Dieser Typ nimmt Rauschgift?“

„Genau“, und Bowers zuckte mit den Achseln. „Letztes Jahr bin ich aus der Militärakademie der Vereinigten Staaten in West Point rausgeflogen, aus einer der renommiertesten Hochschulen des Landes, nur weil ich kiffte. Aber Harvard ist anders. Hier kannst du alles tun, was du willst.“

Jetzt konnte David ihn kaum hören. Das Wort „Rauschgift“ schien ihm überall widerzuhallen, immer wieder und immer lauter, bis es fast ohrenbetäubend war. Plötzlich war das Zimmer sehr eng geworden. Er musste rausgehen.

Er ging direkt zum Zimmer von Eric, der Aufsichtführenden Person im Wohnheim, und sprach von Bowers. David war schockiert und verärgert und außer Atem, und er musste auf Eric sehr jung und naiv wirkte, weil Eric einen Augenblick dasaß, ohne etwas zu sagen. Er paffte seine Pfeife und sah David nachdenklich durch den Rauch an. Er war dreiundzwanzig und schien ein alter, weiser Mann zu sein – oder so dachte David. „Ich bin hier in Harvard“, sagte er zu Eric, „in Harvard – und ich muss mit jemandem zusammenleben, der Rauschgift benutzt – der auch Rauschgift produziert – Rauschgift, das so gefährlich ist, dass ich dessen Namen schon vorher nie gehört habe!“

Er redete und redete und als die Flut seiner Worte aufgehört und er nichts mehr zu sagen hatte, schwieg er einen Augenblick und schaute Eric in die ruhigen, braunen Augen. „Mal sehen,“ sagte dieser, „was ich tun kann. Ich kümmere mich darum.“ Er fasste seine Pfeife an und sah zum Fenster hinaus. „Wollen Sie in ein anderes Zimmer sofort umziehen?“ fragte er. „Oder wollen Sie ein paar Tage die Entwicklung der Dinge abwarten?“

David wusste nicht genau, was er meinte, aber er sagte zu Eric, er warte lieber ab, was passieren würde. Vielleicht könne man eine andere Lösung finden. Und das war alles. David war dafür dankbar, dass Eric schien, über die Lage die Kontrolle zu übernehmen, aber in ein paar Jahren, würde er auf eine ganz andere Reaktion von Harvard-Funktionären stoßen. „Wann werden Sie endlich erwachsen werden?“ Dieser Satz spiegelte die häufigere Einstellung wider, die verschiedene Harvard-Personen später zu David haben würden. Oder manchmal sagte man, „Wann werden Sie anfangen, die Wirklichkeit ins Auge sehen und die Welt so zu nehmen, wie sie ist?“ Eric aber war ein Mensch, der fast einzig in seiner Art war. Zunächst einmal sah es David ganz so aus, dass Eric außerstande war, sich über ihn zu ärgern, egal wie unschuldig oder unerfahren oder naiv er wirken konnte.

Nach zwei Tagen war Bowers weg. Er wurde in ein anderes Harvard-Wohnheim versetzt. David sah ihn nie wieder. Nach dem ersten Jahr in Harvard, sah er auch Eric nie wieder und wusste nie, was aus ihm geworden ist.

Zu einem viel späteren Zeitpunkt dachte David sehr oft, dass, was auch immer aus Eric geworden sein mag, es David schwer fiel, zu glauben, dass Eric einer dieser Harvard-Jurastudenten war, der später nur Rechtsanwalt bei einer großen Firma wurde. Eric muss sich irgendwie einen Sinn für Mitleid bewahrt haben, dachte sich David, obwohl er darüber auch nachgedacht, dass, in der Welt, in der wir heutzutage leben, es vielleicht unmöglich wäre, so etwas für selbstverständlich zu halten.



Teil 1, Kapitel 9

„In welcher Schule ich auch war, in welcher Institution ich auch gearbeitet habe, ich paßte nie ganz zu meiner Umgebung“.
–Marcel Reich-Ranicki
Mein Leben

Davids Persönlichkeit war zu unreif, um ihm zu erlauben, „eines Freundes Freund zu sein“, wenigstens nicht der Freund eines Menschen in seinem eigenen Alter. Er fühlte sich gar nicht sicher, er hatte zu viel Angst davor, dass all seine Schwachpunkte bekannt werden würden und dass man über sie lachen oder sie ausnutzen würde, auf irgendeine Art und Weise.

Natürlich wollte er enge Freunde haben; das war es, was das Leben lohnenswert machte. Tief und tiefsinnige Gespräche mit einem anderen Menschen führen zu können, die neue intellektuelle Welt, die Harvard ihm öffnete, zu teilen, das Gefühl der Neuheit und Aufregung, das er jetzt erfuhr und das seine Gedanken ausfüllte – fast nichts war ihm wichtiger.

Fast nichts. Das, was ihm auch sinnvoller war, war sein unbeholfener, pubertärer Versuch, ein geistliches Leben zu pflegen und zu entwickeln, was man in Harvard als etwas Idiotisches betrachtete, bestimmt damals. Was ihn betrifft, gab es immer noch keinen Konflikt zwischen dem geistlichen Leben und dem Leben des Intellektes, zwischen Glauben und Vernunft. Der eine ergänzt die andere, und natürlich dachte er sich, dass es immer so bleiben würde.

Für David war das ideale Leben ein Streben nach diesen beiden Elementen. Wenn er von der Art und Weise weiterträumte, wie er leben möchte, träumte er davon, dass er ein unmöglich reines Gelehrtenleben – ein mönchisches Leben – führen würde. Nach dem, was er als Junge las und sich vorstellte, war es die Art Leben, das ein Mensch wie Anselm von Canterbury geführt hatte, eine Existenz, die die Suche nach Gott mit dem Streben nach Weisheit verband. Natürlich wissen alle, dass das eine Art Existenz sei, die es nie gab. Leider aber wusste David das nicht und träumte auch von der Idee von intellektuellem Spielen, eine Idee, die er in den gefährlichen Büchern von Hermann Hesse fand, insbesondere im gefährlichsten, Das Glasperlenspiel.

David hatte keine Ahnung, dass in unserem Zeitalter würden immer mehr Leute – in allen Schichten – zu der Überzeugung gelangen, dass die lohnenswerteste Art von Leben aus Betätigungen bestanden, die etwas anders waren, als die Suche nach Gott und das Streben nach Weisheit. Einige Leute würden schließlich lachen und sagen, dass, wenn er nicht seine Ideale erfüllen konnte, der Grund dazu war, dass diese Ideale einfach sinnlos waren. Andere würden sagen, er hätte diese Ideale wirklich nicht ernst genug genommen, und vielleicht hatten diese Leute Recht. Vielleicht hat David sie damals nicht sehr ernst genommen, vielleicht hat er sie sogar nicht verstanden.

Später in seinem Leben aber nahm er sie ernst.

Zu einem viel späteren Zeitpunkt, nachdem er so viele verschiedene Arten von Leben gelebt hatte, sozusagen, waren diese Ideale alles, was ihm wirklich sinnvoll schien. Obwohl er vielleicht den Eindruck erweckte, als ob er für immer genauso unfähig sein würde, diese Ideale zu erfüllen, wie er bis dahin gewesen war, trotzdem blieben diese Ideale immer das, was für ihn den Sinn des Lebens ausmachten. Und wenn er manchmal über die Düsterkeit dieses Lebens und über die große Gefahr des Scheiterns in einem grenzenlosen Ödland der Zeitverschwendung fast verzweifelte, konnte er Zuflucht mindestens in den geheimen Seiten finden, die er schrieb und die wahrscheinlich niemand jemals lesen würde.

Dort, mindestens in jenen Seiten, konnte er noch ein letztes, verzweifeltes Gebet zum Ausdruck bringen. Er konnte noch einen inartikulierten Schrei ausstoßen, dass alles doch gut sein wird, schließlich, „und alle Dinge gut sein werden.“ Als er jene Seiten schrieb, wusste er, dass der junge Mann, der so blind auf Gott und Weisheit hoffte, immer existieren würde. Er wusste, dass er eines Tages – wenn er irgendwie weiterüberleben könnte – letztlich das finden würde, was er suchte, das, was er immer gesucht hatte.



Teil 1, Kapitel 10

„Niemand und nichts kann uns schaden, Kind, außer das, was wir fürchten und lieben“.
–Sigrid Undset
Kristin Lavranstochter

Da es ihm fast unmöglich war, mit anderen Studenten in seinem Alter in Harvard befreundet zu sein, war ein Ehepaar namens Clayton und Ann seine ersten engen Freunde. Diese aber waren eher wie Eltern als wie Freunde.

Damals sah David all seine Freunde – und fast jeden Menschen, den er kennen lernte – nicht wirklich wie sie waren sondern wie er wollte, dass sie sein würden.

Später würde er sich fragen, ob all diese Menschen – zu der Zeit, als er sie kannte – tatsächlich vielleicht genauso so gut und intelligent geworden waren, wie er sie sich vorstellte, und ob sie möglicherweise eine Weile so blieben.

Noch später dachte er, dass dies eine verdrehte Idee war, einfach eine weitere Illusion, die er damals hegte. Und doch sogar damals wollte er immer noch glauben, dass andere Menschen auf das, was er von ihnen erwartete, eingehen können, dass sie tatsächlich das sein können, was sie vermögen, nur weil jemand anderes das Beste in ihnen erkennt und daran appelliert.

Was immer die Wahrheit über Ann und Clayton auch sein mochte, hatte David sie gern und bewunderte sie, mit all der Kraft und Energie, über die ein junger Mann verfügen kann. Sehr lange waren sie die bedeutendsten Menschen, die er in Harvard kannte, weil sie die einzigen waren, denen er wirklich nahe stand. Egal, welche Art Menschen sie wirklich waren, sah er sie als Menschen weiter, die außergewöhnliche Eigenschaften aller Art hatten; sah er in ihnen alle Ideale, die er erwartete, als er nach Harvard kam; sah er sie als die glänzenden, sanft leuchtenden Freunde, die er gesucht hatte.

Dass all das lächerlich geklungen hätte, wenn er es irgendjemandem sagte, das konnte er sich gut vorstellen. Trotzdem glaubte er, es sei wahr. Er fühlte sich so scheu und einsam, sodass Ann und Clayton die einzigen waren, mit denen er seine tiefsten Gedanken und Gefühle teilen konnte. Also für ihn strahlten diese zwei Menschen vor einer Art von innerem Licht.

Manchmal waren seine Gedanken und Gefühle fast zum Überlaufen damit voll, dass er wusste, dass Menschen wie Ann und Clayton, die so weise und intelligent schienen, tatsächlich existierten, und in diesen Augenblicken träumte er davon, dass er Großes leisten würde, um sich ihnen gegenüber dankbar zu zeigen: Er würde große Bücher schreiben, und ganze Bände voller Gedichte. Manchmal verfasste er im Stille die Widmungen dieser Bücher, als er zu Ann und Clayton nach Hause ging oder als er später durch die ruhigen, lautlosen Straßen von Cambridge nach Adams House, seinem Studentenheim, zurückkehrte.

In späteren Jahren dachte er bei sich, wenn Ann und Clayton doch nicht die Art Menschen waren, die in seiner Einbildung existierten, wem kann man die Schuld daran geben, wirklich? Schließlich stellte er sich auch nicht als der Mensch heraus, den Ann und Clayton erwartet hatten.

David hat Ann in einer kleinen Lehrveranstaltung von zehn oder zwölf Studenten kennen gelernt, eine Lehrveranstaltung, die eigentlich ein Teil von einem viel größeren Einführungskurs in englischer Literatur war. Zuerst hat er ihr keine große Beachtung geschenkt. Erst, als einer der anderen Studenten eines Tages über „diese merkwürdige Frau mittleren Alters“ in unserer Klasse Bemerkungen machte, fällt sie ihm eigentlich auf. Damals war Ann gut neunundzwanzig Jahre alt, und ihre mutmaßliche Merkwürdigkeit war tatsächlich nur ein Ausdruck der Individualität, die Harvard-Frauen oft kultivieren. Wo es sich damals um Ann handelte, hieß „Merkwürdigkeit“, dass sie immer eine eher unauffällige Erscheinung war. Zu einem Zeitpunkt, wo fast alle jungen Frauen in Harvard sich schminkten, wenigstens ein bisschen, schminkte sich Ann überhaupt nicht. Zu einem Zeitpunkt, wo die meisten Harvard-Studentinnen möglichst modisch bekleidet waren, trug Ann äußerst unscheinbare Kleidung. Erst später fing sie an, sich auf die absichtlich einfache und elegante Art und Weise anzuziehen, die die echte Schönheit, die er immer in ihr sah, hervorhob.

Erst mehrere Wochen nach dem Anfang des Herbstsemesters sprach David zum ersten Mal mit Ann. Er war in die Mensa der Studienanfänger zum Abendessen gegangen und ist an einem Tisch mit anderen Studenten aus Thayer, seinem Studentenheim, gesessen. Es gab ein Mensa-Tablett auf dem Tisch, vor dem Platz neben ihm. Man hat das Geschirr darauf schon benutzt und es war leer, aber David bemerkte die Spur eines Lippenstifts auf der Kaffeetasse. „Irgendein Mädchen aus Radcliffe hat ihr Tablett liegen lassen“, dachte er bei sich. (Radcliffe war damals die Abteilung für Frauen in Harvard.)

Ein paar Minuten später kam „das Mädchen aus Radcliffe“ zurück und sich setzte. Es war Ann.

Inzwischen hatte sie begonnen, diese leuchtende, halb verborgene Schönheit, die sie ihm für immer unvergesslich machen würde und die ihn eifrig bemüht sein ließ, mit ihr zu reden. Eine Weile sprachen sie über den Englischkurs, den sie besuchten, und dann erzählte sie ihm von ihrem Mann und ihre drei Söhne. „Willst du sie kennen lernen?“ fragte sie ihn. „Bitte komm zu uns heute Abend. Clayton wird mich in ein paar Minuten abholen.“

Ihr Zuhause war nur ein paar Blocks weit entfernt von Harvard Square. Es war eins dieser Cambridger Häuser, die im neunzehnten Jahrhundert gebaut wurden, ein Haus, das immer warm und irgendwie zeitlos schien, durch die Art und Weise, wie es einen begrüßen und umarmen konnte. Es muss noch bestehen. Es wird ganz bestimmt immer in seinen Gedanken bestehen, weil sehr oft während der Abende, die er dort verbrachte, in jugendlicher Begeisterung, er sich in diesen Zimmern umsah und dachte, „Diesen herrlichen Ort, dieses Licht, diese unvergleichlichen Leute – für das Glück, das ich empfinde, werde ich dieses Zimmer und diese Augenblicke verewigen, genauso wie sie jetzt sind“.

Welche arme Existenz aber hat er ihnen eigentlich je verliehen? Sehr wenig vielleicht, aber er könnte mindestens den Versuch unternehmen, das zu tun. Später, nach Jahren, versuchte er immer weiter, so lange wie er es konnte, das Versprechen einzulösen, das er damals als Jugendlicher gab. Aber um das zu tun, hätte er versuchen müssen, wörtlich alles zu äußern, und wer könnte so etwas machen? Alles, was er je tun konnte, war, zu hoffen, dass sein unbeholfenes Schreiben irgendein Verständnis bieten würde, für den wahren Kern der Wirklichkeit, die er einmal gekannt hatte.

Auch bevor er in das Wohnzimmer ihres Hauses an diesem ersten Abend eintrat, gab es schon ein Gefühl des Staunens in seinen Gedanken. Clayton und Ann waren so anders als alle anderen Leute, die er in diesem innerhalb der Grenzen des amerikanischen Mittleren Westens gelebten Leben gekannt hatte. Clayton hatte David die Hand geschüttelt und ihm mit Intelligenz, Verständnis und Interesse in die Augen gesehen. Er war mehrere Jahre älter als Ann, fast so alt wie Davids Eltern, und es machte David glücklich, dass irgendjemand dieser Generation seine Existenz überhaupt anerkennen würde. Das gab ihm ein Hochgefühl, auch ein Gefühl der Freiheit und Kraft. Es war, als ob Clayton und Ann schauten ihn an und sagten, „Wir wissen, wer du bist, und wir glauben, dass du ein außerordentlich wertwoller Mensch bist.“

Bis er Clayton und Ann kennen lernte, hatte der Zweifel an sich selbst, den seine Eltern ihm eingepflanzt hatten – um ihn an sie zu binden – ihn das Gefühl vermittelt, dass sein Leben für andere Leute von geringem Nutzen und Sinn sei. Das, was Clayton zu ihm sagte, war das Gegenteil davon, was seine Eltern immer wortlos vermittelt hatte: „Wir haben keine Ahnung, wer du bist, und selbst wenn wir dich kannte, vermuten wir, dass das sich nicht lohnen würde. Irgendwie aber werden wir dich an uns fesseln. Für immer“.

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